EINE NEUE FORM DER SELBST-VERLEUGNUNG?
Wenn ich nichts mehr bin, bin ich auch für nichts mehr da.
Diese Sätze höre ich immer öfter. Nicht nur aus spiritueller Richtung. Auch aus der Psychologie, aus Podcasts, aus Coachings, aus Social-Media-Reels, aus der „neuen Welt“ der Achtsamkeit und Selbstoptimierung..
Sie klingen klug. Reflektiert. Befreiend.
Aber tief in mir spüre ich: Da wird etwas ausgelassen. Etwas übergangen. Etwas verdrängt.
Denn Gedanken beeinflussen, wie mein Körper funktioniert. Und mein Körper – mit all seinen Erinnerungen, Spannungen, Reaktionen – formt, wie ich fühle, wie ich handle, wie ich wirke. Wenn ich mich mit nichts mehr identifiziere, wenn alles nur noch „etwas, das geschieht“ ist, dann wird auch meine Verantwortung zur Illusion. Und genau das hat Folgen. Im Kleinen wie im Großen.
Im Alltag bedeutet das:
- Ich schreie jemanden an – und sage später, „Das war nur mein altes Muster“.
- Ich übergehe meine Bedürfnisse – und nenne es „Loslösung vom Ego“.
- Ich schaue Leid an – und rede es klein mit „Das ist nur eine Spiegelung deines Inneren“.
- Ich bin passiv – und nenne es „Beobachter sein“.
Und gesellschaftlich?
- Wir wundern uns über Politiker ohne Rückgrat – und feiern gleichzeitig die Loslösung vom Ich.
- Wir kritisieren eine gefühllose Wirtschaft – und predigen gleichzeitig, dass Gefühle nicht „wir“ seien.
- Wir reden über Verantwortung – aber lehren Menschen, sich von allem zu entkoppeln, was sie mal geprägt hat und prägt.
- Wir suchen Verbindung – und feiern Konzepte, die uns systematisch voneinander trennen.
Diese vermeintliche „Freiheit von allem“ wird zu einem strukturellen Nährboden für Ohnmacht, Passivität und Entmenschlichung. Nicht aus Bosheit – sondern aus Gewohnheit. Weil es plötzlich „vernünftig“ klingt, sich von sich selbst zu distanzieren.
Ich glaube, es ist Zeit für etwas anderes: Keine Rückkehr zum Schmerz. Aber auch keine Flucht in die Leere.
Sondern eine neue Form der Präsenz. Eine neue Form des „Menschseins“.
Ich BIN mein Körper. Ich BIN mein Geist. Ich BIN meine Geschichte.
Ich BIN meine Wirkung. Ich BIN meine Beziehung. Ich BIN meine Entscheidung.
Nicht nur das – aber eben auch!
Und genau darin liegt meine Würde. Meine Verantwortung. Meine Freiheit.